W. Knoll
Der Stundenverlauf im klassischen Lateinunterricht ist traditionell sehr klar strukturiert und bietet relativ wenig Gestaltungsspielraum. Feste Bestandteile einer traditionellen Grammatikstunde wie Wortschatzabfrage, Wiederholung, Verbesserung der Hausaufgabe, Neudurchnahme und Übungsphase haben selbstverständlich nach wie vor ihre fachdidaktische Berechtigung, im Kontext der Differenzierung und Individualisierung engen sie notwendige Freiräume jedoch stark ein. Zudem nimmt die Reproduktion während der Wortschatzabfrage und der Wiederholung wertvolle Unterrichtszeit in Anspruch, die häufig für die Übungsphase fehlt.
Das nachfolgende Unterrichtsbeispiel ist so konzipiert, dass die klassischen Unterrichtsbestandteile so modifiziert sind, dass aktuell gültige Merkmale guten Unterrichts wie Kompetenzorientierung, Individualisierung und Differenzierung so umgesetzt werden können, dass eine klare Struktur dennoch gewährleistet bleibt.
Im Folgenden wird zunächst der Organisationsrahmen des Unterrichts vorgestellt. Anschießend finden sich zu den traditionellen Bestandteilen einer Grammatikstunde alternative Methoden, die geeignet sind, die Merkmale guten Unterrichts umzusetzen, Übungszeit zu optimieren und Freiräume für die Förderung von besonders Begabten zu schaffen. Diese Freiräume sind wichtig, damit begabte Schüler ihre besonderen intellektuellen Fähigkeiten interessenorientiert entfalten können.
(Hinweis: Die Unterrichtsbeispiele wurden in einer Offenen Lernlandschaft durchgeführt, die für die Differenzierung und Individualisierung ideale räumliche und auch technische Voraussetzungen bietet. Vieles ist aber sicher auch in „normalen“ Unterrichtsräumen möglich)
Unterrichtsorganisation
Der Unterricht ist jeweils in Einheiten von fünf Schulstunden (zwei Doppel- und eine Einfachstunde) gegliedert. Für jede Unterrichtseinheit erhalten die Schüler folgende Materialien:
- Kompetenzorientierte Arbeitsaufträge
- Lerntagebuch
- Musterlösungen für Lesestücke, Übungen und Sachinformationen
Die kompetenzorientierten Arbeitsaufträge legen fest, welche Kompetenzen jeder einzelne Schüler im Zeitrahmen von 5 Unterrichtsstunden (eine Unterrichtseinheit) erwerben muss. Sie geben zusätzlich Tipps, welche Lernwege beschritten werden können.
Im Lerntagebuch wird durch die Differenzierung in Pflicht und Additum ein individuelles Arbeitstempo ermöglicht. Die Dokumentation dient einerseits dem Zeitmanagement des Schülers, andererseits der Orientierung des Lehrers, der so über den Arbeitsprozess des Schülers mit einem Blick informiert ist.
Besonders begabte Schüler benötigen kürzere Phasen der Rekapitulation, kürzere Übungsphasen, lernen schneller und entfalten dabei eine höhere Kreativität. Um die geforderten Kompetenzen zu erwerben, benötigen Sie so weniger Zeit und müssen unter Umständen auch nicht alle im Lerntagebuch genannten Pflichtaufgaben bearbeiten. So entstehen in allen Phasen des Unterrichts Freiräume, die für interessengeleitete Freiarbeit im Sinne der Begabungsförderung genutzt werden können (Enrichment):
- Recherche zu einem realienkundlichen Thema, evtl. Präsentation vor der Klasse
- Einstieg in die Lektüre eines Originalautors schon während der Spracherwerbsphase (unterrichtsbegleitend)
- Leitung einer Lerngruppe mit leistungsschwächeren Schülern, wobei hier auf das soziale Gefüge der Klasse zu achten ist
- Arbeit an einem unterrichtsbegleitenden Projekt, auch außerhalb des Faches, z.B. auch an einer Wettbewerbsarbeit, an Arbeitsaufträgen aus einem Frühstudium usw.
- Besuch des Lateinunterrichts in einer höheren Klasse, falls dies schulorganisatorisch umsetzbar ist
Die Kernfrage besteht nun darin, wie die klassischen Unterrichtsbestandteile so umgestaltet werden können, dass Freiräume für die Begabungsförderung entstehen. Der Schlüssel dazu liegt in der Individualisierung, die gewährleistet, dass nicht alle Schüler in der gleichen Zeit das Gleiche tun.
Alternative Methoden zum klassischen Stundenaufbau
1. Wortschatzabfrage
Das Problem einer klassischen Wortschatzabfrage liegt darin, dass in dieser Zeit nur ein Schüler wirklich aktiviert ist. Dies gilt nicht für schriftliche Wortschatztests für die ganze Klasse, doch nehmen auch diese relativ viel Zeit in Anspruch, die – gerade in dreistündigen achten Klassen - als dringend notwendige Übungszeit oder eben auch als Freiraum für besonders begabte Schüler fehlt. Dennoch ist eine gewisse Kontrolle der Lernarbeit unbedingt notwendig, um sicherzustellen, dass die Grundlagen für eine erfolgreiche Spracharbeit gelegt werden.
Folgende Varianten der Wortschatzabfrage können Abhilfe schaffen:
A) Wortschatzabfrage während der Übungsphase:
Während die Schüler an ihren Arbeitsaufträgen (s. oben - Unterrichtsorganisation) arbeiten, kann ein Schüler im Einzelgespräch abgefragt werden. Dabei sollte nicht die Bewertung im Vordergrund stehen, sondern die Chance für ein individuelles Feedback zum Lernverhalten genutzt werden. Ein kurzer Rückmeldebogen kann helfen, dass Tipps auch nachhaltig berücksichtigt werden .
B) Schülerbeobachtung während einer Lernphase
Der Aufbau eines sicheren Wortschatzfundamentes ist für viele Schüler die größte Hürde im Fach Latein. Deshalb ist die Verortung der Wortschatzarbeit im Unterricht notwendig, um durch gezielte Beobachtung des Lernens konkrete Lernberatung leisten zu können. Anders als im traditionellen Lateinunterricht sollten im Unterricht mehrere kurze Lernphasen eingeplant sein, um dadurch auch die Anzahl der Wiederholungsdurchgänge zu erhöhen. Als Medium zum individuellen Wortschatztraining bietet sich neben Lehrbuch, Karteikasten, Vokabelheft usw. auch die Lernplattform Quizlet an. Sie bietet mit ihren abwechslungsreichen Übungsformen (Karteikartenabfrage, Zuordnungsübungen, multiple-choice-Aufgaben usw.) die Chance, Wortschatzarbeit motivierender zu gestalten. Die Wortschätze aus dem Lehrbuch lassen sich mit Hilfe einer Excel- oder Word-Tabelle relativ einfach importieren. Das Einrichten eines accounts ist für die Schüler nicht erforderlich. Hier können – falls keine PCs oder IPads verfügbar sind, auch die Handys der Schüler als Unterrichtsmedium genutzt werden, natürlich unter der Voraussetzung, dass dadurch keine zusätzlichen Kosten für die Schüler entstehen (WLAN), dass die Handys nur für den Unterricht verwendet werden (mit Erlaubnis des Lehrers) und dass kein sozialer Druck entsteht. Hier ist der Lehrer in der Pflicht.
Bei der Arbeit mit Quizlet ist es möglich, Schüler gezielt zu beobachten, ihre Wortschatzarbeit ggf. zu bewerten und die Bewertung in ein kurzes Lernstandsgespräch münden zu lassen.
C) Wortschatzarbeit nach unterrichtsbegleitenden Wiederholungsplänen
Ein Wiederholungsplan für den Wortschatz der Vorjahre führt die Schüler durch das ganze Schuljahr. Die Einhaltung der Pläne wird in die Selbstverantwortung der Schüler gestellt. An bestimmten, vorher festgelegten Terminen finden Tests zu den bis dahin wiederholten Wortschätzen statt. So kann die Lernzeit für die Wiederholung individuell geplant und bei besonders begabten Schülern auch minimiert werden.
D) Lernvereinbarungen mit besonders begabten Schülern
Bei besonders begabten Schülern muss aufgrund der größeren Verarbeitungstiefe keine kontinuierliche Lernkontrolle erfolgen. Möglich sind hier evtl. Lernkontrollen an vereinbarten Fixpunkten im Schuljahr über größere Lernumfänge. Wenn der Schüler Termin und Umfang selbst vorschlagen kann, erwacht im Idealfall der Ehrgeiz und steigt die Motivation zum Lernen. So kann vermieden werden, dass kleinschrittige und „verordnete“ Lernaufträge dem Selbstwirksamkeitsbedürfnis des besonders Begabten widersprechen und so die Lernmotivation sinkt .
2) Wiederholung / Hausaufgabenverbesserung
Die klassische Wiederholung als Rekapitulation eines bereits übersetzten Textes mit vertiefenden Fragen zum Verständnis ist ebenso wie die Verbesserung der Hausaufgabe im Grunde ein reorganisierender und für besonders begabte Schüler nicht immer notwendiger Arbeitsschritt. Für leistungsschwächere Schüler dagegen sind Wiederholung und Hausaufgabenverbesserung unverzichtbar, weil erst bei mehrmaligem Vertiefen ein ausreichendes Textverständnis erreicht wird.
Einige Anregungen, wie dieser Widerspruch in der Praxis aufgelöst werden kann:
A) Mentorensystem: leistungsstarke Schüler leiten als Mentoren eine Kleingruppe und erklären individuelle Schwierigkeiten. Davon profitieren alle unter der Voraussetzung, dass das soziale Gefüge stimmt und der begabte Schüler auch in der Lage ist, sein eigenes Wissen für andere verständlich einzubringen. Die Kleingruppen sollten über längere Zeit in konstanter Besetzung zusammenarbeiten, denn dies kann – wenn nötig - die Integration besonders begabter Schüler fördern. Bei der selbstorganisierenden Arbeit mit dem Lerntagebuch ist es wichtig, dass die Gruppe intern genau abklärt, welche Textpassagen zu wiederholen sind und welche Neuübersetzung zu Hause gemacht wird .
B) Enrichment: Besonders begabte Schüler arbeiten während der Wiederholungsphase an ihrer Freiarbeit weiter (s. oben), während die Klasse entweder klassisch im Plenum mit dem Lehrer oder selbständig mit Hilfe der Musterlösungen z. B. in Gruppenarbeit wiederholt oder verbessert.
C) LdL: Besonders begabte Schüler bereiten während der Wiederholung oder der Hausaufgaben-verbesserung die Neudurchnahme so vor, dass sie sie im Sinne des LdL vor der Klasse durchführen können. Sicher ist es notwendig, dass sich die Schüler auch schon zu Hause oder in den Vorstunden darauf vorbereiten und ihre LdL-Einheit mit dem Lehrer im Vorfeld besprechen.
3. Neudurchnahme
Bei der Neudurchnahme kommt es vor allem auf die Klarheit der Instruktion (vgl. Hattie) an. Besonders Begabte Schüler profitieren hier ebenso wie alle übrigen Schüler davon, dass die Instruktionsphase möglichst komprimiert, kurz und klar gehalten ist, weil so Übungszeit gewonnen wird. In diesem Sinn hat hier die klassische Instruktion durch den Lehrer ihre volle Berechtigung. Dabei ist die Übernahme der Lehrerrolle durch besonders begabte Schüler (LdL) immer dann sinnvoll, wenn die Klarheit der Instruktion nicht leidet und kein zusätzlicher Zeitaufwand erforderlich ist.
4. Übungsphase
In der Übungsphase wird der neue gelernte Stoff erstmals eingeübt, d.h. hier werden Leistungsunterschiede innerhalb der Klasse sehr deutlich sichtbar. Während leistungsstarke Schüler kaum Probleme haben, die Instruktionen des Lehrers zu reproduzieren, zu reorganisieren und anzuwenden, benötigen leistungsschwächere Schüler oft weitere Erklärungen, Hilfen bei individuellen Verständnisschwierigkeiten und Tipps für die Anwendung des Gelernten. Gemeinsames Üben im Klassenverband an einheitlichen Aufgabenstellungen führt deshalb häufig nicht zu idealer Passung. Eine Einteilung der Übungsaufgaben in Pflicht und Additum (s. oben „Lerntagebuch“) ist deshalb sinnvoll, weil so im individuellen Arbeitstempo auf unterschiedlichen Anforderungsniveaus geübt werden kann. Der Lehrer fungiert während dieser freien Übungsphasen als Lernbegleiter, d.h. er beantwortet Fragen der Schüler in einer Atmosphäre des Förderns und nicht des Bewertens. Nur dann ist zu erwarten, dass Schüler wirklich bereit sind, ihre Schwierigkeiten offen anzusprechen.
Auch während der Übungsphase kann ein besonders begabter Schüler den Lehrer unterstützen, d.h. den Betreuungsgrad der Klasse erhöhen und dabei selbst profitieren. Folgende Möglichkeiten bieten sich an:
A) Co-teaching: Der besonders begabte Schüler übernimmt die Rolle eines Co-teachers, d.h. er beantwortet – wie der Lehrer selbst – Fragen der Mitschüler während der Partner- oder Gruppenarbeit.
B) Lernpartnerschaft: Der besonders begabte Schüler übt über einen längeren Zeitraum hinweg mit einem Schüler, der große Leistungsprobleme hat. Er steht diesem auch bei Hausaufgaben und evtl. auch in anderen Fächern als Ansprechpartner zur Verfügung und hilft bei Bedarf. Die Lernpartnerschaft funktioniert nur, wenn beide Schüler auf der Beziehungsebene harmonieren, sie kann dann aber positive Auswirkungen auf die Integration des besonders begabten Schülers haben.
C) Mentoring: Der besonders begabte Schüler leitet eine Lerngruppe (s. oben).
Neben diesen Möglichkeiten, die sich unter bestimmten Bedingungen sehr positiv auf das Sozialgefüge der Klasse auswirken können, sind natürlich auch während der auf Selbstorganisation angelegten Übungsphase alle Varianten des Enrichments (s. oben) möglich.