Dr. Stefan Seiler
Im Metamodell als Grundlage des Passungsprozesses von Seiten des Kindes aus bezeichnet, lassen sich dispositionelle Besonderheiten und Temperamentsfaktoren von Kindern beschreiben. An dieser Stelle soll nicht die Diskussion darüber aufgegriffen werden, was als wichtiger anzusehen ist: Erlerntes Verhalten oder dispositionelle/genetische Faktoren, die unser Verhalten beeinflussen. In jedem Falle kann davon ausgegangen werden, dass es einen komplexen Wechselwirkungsprozess gibt, zu dem in neuerer Zeit die Ergebnisse aus der Epigenetik (=Wissenschaftliche Richtung, die sich mit den Einflüssen von Umweltfaktoren auf unser Erbgut befasst) mit einzubeziehen sind. Es ist zudem davon auszugehen, dass dispositionelle Faktoren einem kulturellen Bewertungsprozess unterworfen sind und sich daher Faktoren wie Attraktivität und Aussehen, aber auch andere Faktoren wie Wesensmerkmale in ihrem (positiven oder negativen) Einfluss auf den Passungsprozess immer nur vor einem spezifischen, historischen und kulturellen Hintergrund beurteilen lassen. Was in dem einen (sub)kulturellen Kontext erwünscht ist, kann in einem anderen als unerwünscht angesehen werden (z. B. die Durchsetzungsfähigkeit eines männlichen Kindes).
Temperamentsfaktoren
Neben anderen dispositionellen Faktoren, die uns in die Wiege gelegt wurden und genetisch bedingt sind, wurde im Laufe der Geschichte immer wieder auf die sog. Temperamentsfaktoren Bezug genommen. Anders als persönliche Eigenschaften, die angelegt sind und im Laufe der Entwicklung reifen, stellen Temperamentsfaktoren grundlegende Eigenschaften dar, durch welche die weitere Entwicklung eines Kindes – in Wechselwirkung mit der Umwelt – moduliert wird (folgende Zusammenfassung bezieht sich in wesentlichen Teilen auf die Dissertation von A. Reich, 2005).
Die Theorien und Forschungsbeiträge zu den Temperamentsfaktoren sind darüber hinaus eng verwoben mit der Persönlichkeitspsychologie. Insofern sind Temperamentsfaktoren anzusehen als „Vorläufer“ oder frühe Ausprägungen von Persönlichkeitseigenschaften oder -stilen.
Historisch geht der Begriff des Temperaments auf Hippokrates zurück, der die Temperamentsfaktoren „sanguinisch“, „melancholisch“, „cholerisch“ und „phlegmatisch“ prägte. Der römische Arzt Galenus bezog sich hierauf, als er beschrieb, wie sich unterschiedliche biologische Substanzen im Körper des Menschen aufeinander abstimmen (lat. „temperare“). Kant versuchte später prägnante Beschreibungen dieser vier Temperamentsfaktoren nach Hippokrates. Rein von historischem Wert blieb die Einteilung der Konstitutionstypologie nach Kretschmer (1921, zit. nach Reich, 2005), der aus dem Körperbau Rückschlüsse auf den Charakter bzw. auf die Anfälligkeit für Psychische Erkrankungen ziehen wollte und die Einteilung in leptosomer/asthenischer, pyknischer, athletischer und dysplastischer (Körperbau-)Typ bzw. 3 Typen des hiermit in Zusammenhang stehenden Temperaments unterschied: schizotypes, zyklothymes und visköses Temperament.
Auch aus heutiger Sicht noch interessant und relevant erscheint dann die von Pawlow entwickelte Temperamentstypologie, die Unterschiede in der Beschaffenheit des Nervensystems postuliert. An Tieren untersucht und auf den Menschen übertragen, ging Pawlow davon aus, dass aus der unterschiedlichen Beschaffenheit des Nervensystems unterschiedliche Reaktionsweisen auf Reize resultieren. So unterschied er zwischen zwei Typen mit:
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„Schwachem“ und
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„Starkem“ Nervensystem.
Nach Pawlows Ansicht benötigt die Gruppe der Ersteren in ihrem Leben gleichbleibende, einförmige Lebensbedingungen, die zweite Gruppe hingegen einen ständigen Wechsel von Reizen. Für Pawlow -wie auch für Sigmund Freud - galt, dass introvertierte Personen mit „schwachem Nervensystem“ neurotisch und unbrauchbar seien (vgl. Zentner, 1993).
In Anlehnung hieran differenzierten Teplov und Nebylitsyn (1964, zit. nach Strehlau, 1989) die Unterscheidung zwischen „schwachem“ und „starkem Nervensystem“ weiter aus und beschrieben, dass die Stärke des Nervensystems negativ mit der Sensibilität des Nervensystems korreliere. Letztere jedoch sei ausschlaggebend für die Anpassung an die Umwelt (vgl. hierzu Reich, A., 2005). Hiermit gelang eine wesentliche Erweiterung, die zu einer wertfreien Betrachtung der Typologien führt und aufzeigt, dass unterschiedlich ausgeprägte biologische Charakteristiken des Nervensystems mit unterschiedlichen (positiven wie negativen) Konsequenzen für die Entwicklung eines Menschen einhergehen.
In der Weiterentwicklung führte Strehlau (1983) den Begriff der „Reaktivität“ ein und unterschied zwei verschiedene Typen:
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„Stark reaktive Typen“, deren Nervensystem eine hohe Sensibilität, jedoch geringe Ausdauer aufweise, wodurch die Wirkung von Stimuli verstärkt werde. In der Folge führe das zu einem (generell) erhöhten Erregungsniveau.
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„Schwach reaktive Typen“, deren Nervensystem eine geringe Sensibilität, jedoch hohe Ausdauer aufweise, wodurch die Wirkung von Stimuli vermindert werde. Dies führe in der Folge zu einem (generell) niedrigen Erregungsniveau.
Passend hierzu geht Eysenck (1967, zit. nach Zentner) davon aus, dass Introvertierte (also „stark reaktive Typen“) im Gegensatz zu Extrovertierten (also „schwach reaktive Typen“) ein chronisch hohes Maß an kortikaler Erregung haben. Im Rückschluss lässt sich aus diesen Unterscheidungen schlussfolgern, dass die Introvertiertheit (auch) als eine Art Schutz vor Reizüberflutung angesehen werden kann, während die Extravertiertheit (auch) Ausdruck der Suche nach (Entwicklungs-)Anreizen ist. Strehlau (1989) führt dies konsequent fort, indem er annimmt, dass die beiden Typen im Laufe ihres Lebens regulative Strategien (…der Temperamente) entwickeln, um ein jeweils optimales Erregungsniveau aufrechtzuerhalten (also entweder reizsuchendes oder -vermeidendes Verhalten in Abstufungen entwickeln, vgl. hierzu auch den Abschnitt „Störungsbilder“).
Soweit zur frühen Typologie der Temperamente. C. G. Jung wies auf einen wesentlichen, weiteren Aspekt hin: Dass angeborene Dispositionen nicht alleine die Entwicklung der Persönlichkeit determinieren, sondern in einem Wechselwirkungsprozess mit Umweltfaktoren stehen. Insofern wies er auf die Bedeutung von Passungsprozessen hin, in die die kindliche Entwicklung eingebettet ist (vgl. hierzu auch den Abschnitt „Passung“). Mit den von Jung unterschiedenen intro- und extravertierten Kindern werden antithetische, gleichwertige Temperamentstypen beschrieben. Er ging davon aus, dass Ihnen jeweils Reaktionsweisen angeboren seien, mit denen sie auf die Reize in der Umwelt reagierten. Dies sei bereits im Säuglingsalter erkennbar. Verhaltensstörungen resultieren nach Jung nicht direkt aus dem jeweiligen Typus, sondern als Folge aus einer mangelnden Passung zwischen Umweltanforderungen und diesen „normalen“ Variationen des Temperaments.
Seit den 1990er Jahren steht nun die Frage im Mittelpunkt, wie genau der psychosoziale Kontext und angeborene verhaltensrelevante neurobiologische Unterschiede in der Entwicklung von Kindern zusammenwirken und schließlich zur Ausbildung von Persönlichkeitseigenschaften führen.
Thomas und Chess (1980) gehen zunächst ganz allgemein von einem engen Zusammenhang zwischen Temperament und kindlicher Entwicklung aus. Wachstum und Entwicklung sind danach als Ergebnis eines Wechselwirkungsprozesses zwischen Vererbungs- und Umweltfaktoren anzusehen. Die Autoren beschreiben erste Temperamentsfaktoren, die einen Einfluss auf die kindliche Entwicklung und damit auf den Wechselwirkungsprozess haben. Mit dem Begriff des „Goodness of Fit“ (vgl. Thomas und Chess, in Goldsmith et al., 1987) wird beschrieben, wie gut oder schlecht die Passung zwischen dem Temperament des Kindes und den Bedingungen in der Umwelt ausgeprägt ist, als Rahmenbedingung für die Entwicklung von (Persönlichkeits-)Eigenschaften des Kindes. Sie beschreiben zunächst folgende Temperamentsfaktoren:
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Regelmäßigkeit biologischer Funktionen (Schlafverhalten, Hunger),
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Motorische Aktivität,
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Intensität des Lachens und des Weinens (resp. der Emotionalität),
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Anfängliche Reaktionen auf neue Reize (resp. Reaktivität oder Reagibilität),
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Leichtigkeit, mit der Reaktionen der Kinder verändert werden können (resp. Auslenkbarkeit, Anpassungs- oder Lernfähigkeit).
Nach Thomas und Chess (1980) bezeichnen die Temperamentsfaktoren dabei das „Wie“ bzw. die Art einer Verhaltensweise. Fähigkeit hingegen bezeichnet in Abgrenzung hierzu das „Was“ und „Wie gut“ eines Verhaltens. Mit Motivation wiederum ist das „Warum“ gemeint, also die Gründe, die eine Person für ihr Handeln hat.
Für Rothbart, M. (1989) ist das genetisch veranlagte Temperament quasi die Anlage der Persönlichkeit eines Neugeborenen. Im Laufe der Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickeln sich beim Kind und Jugendlichen dann weitere Persönlichkeitsstrukturen und –strategien. Das Temperament beschreibt sie als konstitutionell bedingten Unterschied in der Reaktivität (resp. Erregbarkeit) und Selbstregulation (resp. die Reaktivität modulierenden Prozesse, also Verstärkung von Reizen oder Inhibition). Sie beschreibt 6 Temperamentsdimensionen:
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Aktivität,
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Lächeln/Lachen (resp. positive/negative Emotionalität),
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Angst,
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Beunruhigung durch Einschränkungen/Frustration (resp. Frustrationstoleranz),
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Beruhigbarkeit,
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Ausdauer der Orientierung/Interesse.
Eine gänzlich andere Unterscheidung treffen Goldsmith und Campos (vgl. Goldsmith, 1987, zit. nach Reich, 2005), die das Temperament definiert sehen durch Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit des Auftretens primärer Emotionen und Erregungen (also deren Intensität und Häufigkeit).
McCall schließlich macht den Versuch, die o. g. theoretischen Zugänge zu einer Art Kompromissdefinition zu vereinen, indem er feststellt: „Das Temperament besteht aus relativ konsistenten, grundlegenden Dispositionen einer Person, die dem Ausdruck von Aktivität, Reaktivität, Emotionalität und Soziabilität zugrunde liegen bzw. diesen modulieren“ (vgl. Goldsmith et al. 1987, zit. nach Reich, 2005).
Mit der New Yorker Längsschnittstudie (in der Kinder von der Geburt bis zur Adoleszenz untersucht wurden) beschreiben Thomas und Chess (1980) dann konkret insgesamt 9 Temperamentsdimensionen, die sie bei allen untersuchten Kindern in unterschiedlicher Ausprägung festgestellt hätten:
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Das Aktivitätsniveau
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Die Rhythmizität/Regelmäßigkeit (Schlafen, Essen)
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Das Annäherungs – Rückzugsverhalten (resp. die ersten Reaktionen eines Kindes auf neue, unvertraute Reize)
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Die Anpassungsfähigkeit (resp. inwieweit sich die Reaktion des Kindes in eine von der Umwelt erwünschte Richtung verändern kann)
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Die Sensorische Reizschwelle (resp. die Intensität, die ein Reiz haben muss, um eine wahrnehmbare Reaktion des Kindes hervorzurufen)
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Die Intensität (resp. die Heftigkeit, mit der eine Reaktion zum Ausdruck gebracht wird)
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Die Stimmungslage (resp. der Anteil am Verhaltensspektrum eines Kindes, der von der Umwelt als positiv erlebt wird, also z. B. angenehmes, freudvolles, freundliches Verhalten)
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Die Beharrlichkeit/Ausdauer
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Die Ablenkbarkeit.
Im Weiteren beschreiben sie verschiedene „Cluster“ von Temperamentfaktoren, die sich zunächst jedoch als wenig valide erwiesen:
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Das „einfache Kind“,
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Das „schwierige Kind“,
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Das „langsam auftauende Kind“,
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Nicht klassifizierbare Kinder (größte Gruppe).
Mit dem Cluster der „schwierigen Kinder“ sollte eine Kombination von Temperamentsfaktoren erfasst werden, die zu problematischen Interaktionen mit der Umwelt führen und in der Folge zu einer Häufung von psychischen Erkrankungen (Verhaltensstörungen) führen. Als solche stehen nach Thomas und Chess folgende Temperamentsausprägungen in Verdacht, negative Prädiktoren für die kindliche Entwicklung zu sein:
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Unregelmäßigkeit der biologischen Funktionen (schwach ausgeprägte Rhythmizität),
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Rückzugsverhalten (in der Annäherung hin auf neue Reize, z. B. veränderte Lebensbedingungen, neue Bezugspersonen, neue Nahrungsmittel),
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Unfähigkeit zu oder langsame Anpassung an Veränderungen,
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Intensiver, eher negativ getönter Emotions- oder Stimmungsausdruck (Kinder weinen häufig und intensiv).
Abschließend darf an dieser Stelle noch darauf verwiesen werden, dass die zuletzt genannten (als problematisch angesehenen) Temperamentsfaktoren auch an anderer Stelle in der Forschung bzw. in der Beschreibung des Metamodells wieder auftauchen. Sie werden in Zusammenhang gebracht mit der „Stressresistenz/Resilienz“ von Personen bzw. spielen im „Teufelskreismodell“ bei der Entstehung von frühkindlichen Regulationsstörungen eine wichtige Rolle.