Dr. Stefan Seiler
Zur Methode des Hypothetisierens
In der Fallarbeit mit Schulpsychologen und (Beratungs-)Lehrkräften zeigt sich, wie intensiv sich diese mit dem Erleben und Verhalten von v. a. problematischen SchülerInnen beschäftigen. Sie entwickeln (automatisch) Erklärungsmodelle und Hypothesen über die Entstehung und Bedeutung des beobachteten Verhaltens. Hypothesen zu bilden ist unerlässlich, wenn wir kompetent handeln wollen. Problematisch kann es dann werden, wenn solche Hypothesen unüberprüft und unreflektiert bleiben. Vor allem mit Hilfe einer Objektivierung ihrer Hypothesen – indem sie ihre automatisch entwickelten Hypothesen mit Hilfe anderer reflektieren - können sie verhindern, dass Vorverurteilungen und Stigmatisierungen entstehen.
Beim Hypothetisieren sind ein paar grundlegende Fakten zu beachten:
- Hypothesen stellen nur Annäherungen und Konstruktionen der Wirklichkeit dar, keine Wahrheiten.
- Hypothesen müssen überprüft und objektiviert werden.
- Bei der Generierung von Hypothesen sollten wir „die Nase am Boden“ behalten und uns bemühen, naheliegende und logisch möglichst nachvollziehbare Hypothesen zu bilden.
- Eigene moralische Maßstäbe sollten zurückgehalten werden, das bedeutet, dass das beobachtete Verhalten nicht bewertet, sondern erklärt werden soll.
Hypothesenbilden heißt systemisch zu denken: Hypothesenbilden stellt sowohl die Grundlage der quantitativen, als auch der qualitativen Sozialwissenschaften dar. Auf die Entschlüsselung des Sozialverhaltens bezogen, führt dies die Methode der Objektiven Hermeneutik (Oevermann, U., z. B. 1979, 2000, 2001) am besten vor Augen. Mit ihrer Hilfe soll die sog. sinnstrukturierte Welt (einer Person) erklärt werden, die bewussten und unbewussten logischen (Entscheidungs)Prozessen folgt. Um diese zu verstehen, sollten zunächst alle – oder zumindest möglichst viele - der theoretisch möglichen oder plausiblen Erklärungen dafür bedacht werden, warum eine Person so gehandelt haben könnte wie sie es tat. Personen handeln aufgrund von Sinn-Strukturen. Das sind quasi Gesetzmäßigkeiten die das handelnde Individuum als vorhanden und relevant voraussetzt. Dabei sind:
- universell,
- historisch und
- subkulturell
erschließbare logische Schlüsse im Gesamtkontext einer Gesellschaft zu bedenken (vgl. Oevermann, U., 2000, Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis).
Bei der Hypothesengenerierung ist weiterhin zu bedenken, dass die gefundenen Erklärungen nicht auf monokausalen Schlüssen basieren sollten. In der Regel gibt es keine einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Unser Handeln folgt immer mehr oder weniger bewussten Abwägungsprozessen, in die viele Überlegungen, Zwänge und Determinanten einfließen. Je mehr solcher Abwägungsprozesse wir nachzuvollziehen, desto besser werden unsere Hypothesen. Sie stellen dann multikausale bzw. multifaktorielle Erklärungsmodelle für das vorgefundene Verhalten oder innere Erleben einer Person dar. Die aktuellen klinisch-psychiatrischen Störungsmodelle basieren alle auf solch multikausalen bzw. multifaktoriellen Erklärungsmodellen.
Aus der systemischen Familientherapie haben wir zudem gelernt, dass unsere Welt- und Selbstsicht eingebettet ist in familiäre und andere (sub)kulturelle Bezüge und dass es erforderlich ist, eine soziologische/familiäre Mehrgenerationenperspektive einzunehmen um das Verhalten und Erleben unseres Gegenübers zu verstehen. Unsere Welt- und Selbstsicht spiegelt demnach viele Überzeugungen wider, die wir in unserer (primären) Sozialisation erlernt haben. Lebensthemen, Interpretationsmuster, Handlungsmotive, Verhaltensmuster, etc., werden oftmals von Generation zu Generation weitergegeben. Sie entstehen darüber hinaus in Wechselwirkung mit den vorgefundenen gesellschaftlichen Bedingungen.