Dr. H. Ulbricht
Niemand wird von einer Lehrkraft verlangen, dass sie die Diagnose Hochbegabung bei einem Schüler oder einer Schülerin trifft. Vielmehr wird die Lehrkraft den Anstoß für die Sammlung vieler diagnostischer Bausteine geben. Die eigentliche Diagnose, die auch testdiagnostische Elemente enthält, sollte stets von Experten (Schulpsychologen, Psychologen …) getroffen werden.
Lehrkräfte spielen weltweit – wie Untersuchungen zeigen – bei der Identifikation von begabten Kindern und Jugendlichen eine entscheidende Rolle. Sie
- geben wichtige Informationen an Eltern,
- treffen häufig die Auswahl für eine Benennung zu speziellen Förderangeboten
- und begleiten nicht zuletzt im Rahmen ihres Unterrichts die Lernenden in ihrer individuellen Entwicklung.
Hauptkriterien, die Lehrkräfte bei der (Erst-) Identifikation von Hochbegabung leiten, sind:
- Begabung, die sich in schulisch relevanten Domänen äußert, z.B. in Mathematik oder in (fremd-) sprachlichen Fächern
- Begabung, die sich in vielen Bereichen in gleichem Ausmaß zeigt
- Begabung, die sich in einer leistungsorientierten Familie entwickelt
- Begabung, die in allgemein anerkannten Leistungsbereichen gezeigt wird
- Begabung, die mit Leistungsmotivation, Verantwortungsbewusstsein, sozialer Sensibilität und anderen positiv bewerteten Eigenschaften einhergeht
Die Begabungseinschätzung einer Lehrkraft wird umso ungenauer, je weniger der genannten Kriterien wahrgenommen werden können bzw. vorhanden sind (vgl. Hany, E., 1999).
Experten vermuten, dass viele (besonders) begabte Schülerinnen und Schüler nicht oder (zu) spät erkannt werden. Davon seien vor allem diese Risikogruppen betroffen:
- hochbegabte Mädchen
- Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund
- Schüler und Schülerinnen mit einem Handicap
- Underachiever
- tendenziell auch verhaltensauffällige Lernende
Es gibt Forscher, die betonen, es gebe keine allgemein verbindliche Definition von Hochbegabung, so dass je nach Verständnis dieses Konstrukts die konkrete Identifikation sehr unterschiedlich aussehen könne.
Einigkeit besteht darüber, dass eine frühzeitige Identifikation notwendig und hilfreich ist. Die Erkenntnisse sind umso valider, je vielfältiger die hinzugezogenen Quellen sind.
Mögliche Informationsquellen:
Für die Identifikation ist es besonders hilfreich, von mehreren Personen Informationen und Einschätzungen einzuholen:
- von den Eltern Aussagen zu außerschulischem Wissen, besonderen Interessen und bisherigen Entwicklungsverläufen
- von den Lehrkräften Aussagen zu fachspezifischen Beobachtungen und Lernleistungen
- vom Schulpsychologen Aussagen über erfolgte Testdiagnostik usw.
- ggf. vom Arzt oder Therapeuten Aussagen über den Entwicklungsstand.
(Siehe auch: Hany, 1999 Wie gute können Lehrkräfte Hochbegabung erkennen? )
Im Hinblick auf die Auswahl von Lernenden für Fördermaßnahmen wie Pluskurse, besondere Arbeitsgemeinschaften, Enrichmentklassen am Gymnasium, Talentklassen an der Realschule, Schülerakademie, Frühstudium usw. ist eine Identifikation (besonders) begabter Schülerinnen und Schüler notwendig. Häufig werden hier nur die Schulnoten herangezogen. Eine effektivere Auswahl wäre möglich, wenn möglichst viele der genannten Quellen genutzt würden. (siehe auch Baudson 2009 )
Für die Arbeit der Lehrkräfte eignet sich auch der Einsatz von Beobachtungs- und Fragebögen (siehe unter "Pädagogisch diagnostizieren": Vortrag Prof. Sacher "Strategien" und "Zusatzmaterial zum ISB-Leitfaden"). Bei aller Kritik an den zum Teil bunt gefächerten Kategorien können die Bögen jedoch helfen, Schülerinnen und Schüler systematisch zu beobachten und Informationen zu sammeln.
Literatur
- Hany, E. (1999) Wie gut können Lehrer Hochbegabung erkennen? Vom diagnostischen Alltag der Lehrkräfte und ihren Problemen. Zeitschrift Landesverband Hochbegabung aktuell, 1999, 1
- Baudson, G. (2009) Nominationen Hochbegabter für Förderprogramme, MinD-Magazin, 68
- Baudson, T. G. (2010) Nominationen von Schülerinnen und Schülern für Begabtenfördermaßnahmen. In: Preckel, F. et al. (Hg.) Jahrbuch der pädagogisch-psychologischen Diagnostik - Tests und Trends, Neue Folge Band 8 – Diagnostik von Hochbegabung. S. 89 - 117
- Olechovsky, R. (2008) Probleme der Identifikation von Hochbegabten